Inklusion beginnt mit Wissen: Die 10 häufigsten Irrtümer über Schwerbehinderung im Job

Text: Die 10 häufigsten Irrtümer über Schwerbehinderungen im Job. Symbol: Liste und Glühbirne

Inklusion ist nicht nur ein Menschenrecht. Inklusion lohnt sich für alle. Unternehmen, die auf Vielfalt setzen, genießen einen klaren Wettbewerbsvorteil: Sie schaffen eine zukunftsfähige Unternehmenskultur, stärken die Mitarbeiterbindung und sichern sich dadurch auch eine positive Außenwahrnehmung. Trotzdem halten sich in Deutschland viele Vorurteile über das Thema Schwerbehinderung im Job hartnäckig. Oft liegt das einfach daran, dass Unsicherheit die Sicht auf die Chancen verstellt. Höchste Zeit also, mit den größten Irrtümern aufzuräumen!

Wer Inklusion will, sucht Wege, wer sie nicht will, sucht Begründungen.“  Hubert Hüppe (Bundesbeauftragter für die Belange behinderter Menschen, 2009–2013) 

 

Was bedeutet Schwerbehinderung im Arbeitskontext überhaupt?

Als schwerbehindert gelten in Deutschland Menschen, denen ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 zuerkannt wurde. Aber auch Menschen mit einem GdB zwischen 30 und 49 können unter bestimmten Voraussetzungen als schwerbehindert gelten: Wenn sie aufgrund ihrer Behinderung keinen geeigneten Arbeitsplatz finden oder behalten, können sie bei der Agentur für Arbeit den Status einer Gleichstellung beantragen (§ 2 SGB IX).

Laut den Daten des Statistischen Bundesamts leben aktuell 7,9 Millionen Schwerbehinderte in Deutschland. Bei einem Drittel davon handelt es sich um Menschen im erwerbstätigen Alter. 

 

Schwerbehinderung geht jedes Unternehmen an

Schwerbehinderung tritt in vielfältigen Formen auf: von Sinnes- oder Mobilitätseinschränkungen über chronische und psychische Erkrankungen bis hin zu neurodiversen Veranlagungen. Die aktuelle verhaltenswissenschaftliche Forschung zeigt, dass die meisten dieser Behinderungen (70–80 %) unsichtbar sind. Dazu kommt, dass sie jederzeit jede:n treffen können. Das gilt auch für langjährige Mitarbeitende oder Führungskräfte (besonders in unserer immer älter werdenden Gesellschaft).

 

Keine Angst vor Inklusion: Die 10 häufigsten Irrtümer über Schwerbehinderung im Job

Anti-Diskriminierung und Inklusion sind in Deutschland gesetzlich geregelt. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und insbesondere das Sozialgesetzbuch (SGB) IX schaffen klare rechtliche Rahmenbedingungen hinsichtlich der Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Wir stellen im Folgenden die 10 häufigsten Missverständnisse auf die Probe. 

 

1. Irrtum: Eine Stelle für Menschen mit Behinderungen kann nur von barrierefreien Unternehmen ausgeschrieben werden

Barrierefreiheit ist kein Endzustand, sondern ein Prozess. Von infrastrukturellen oder digitalen Barrierefreiheiten (z.B. einem höhenverstellbaren Schreibtisch, einem ruhigen Arbeitsplatz, einer barrierefreien Software) profitieren letztlich alle Mitarbeitenden. Wichtiger als die sofortige Perfektion ist die Bereitschaft, sich aktiv mit dem Thema auseinanderzusetzen und Schritt für Schritt gemeinsam Lösungen zu finden. Denn bevor die externen Barrieren fallen können, müssen zunächst die Barrieren in unseren Köpfen verschwinden.

myAbility unterstützt Unternehmen dabei, inklusive Wege zu gehen – egal, wo im Prozess sie gerade stehen. Unsere Schwerpunkte reichen von inklusivem Recruiting über Aufklärung zum Thema Inklusion bis hin zur Gestaltung barrierefreier Websites und dem Aufbau von Netzwerken.

 

2. Mythos: Mitarbeitende mit Schwerbehinderungen leisten weniger 

Einige Menschen denken, dass ein bestimmter Grad an Behinderung in der Arbeitswelt automatisch geringere Leistung bedeutet. In Wahrheit ist aber selbst jemand mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit den richtigen Hilfsmitteln (wie Bildschirmlesegeräten) oder Rahmenbedingungen (wie etwa flexiblen Arbeitszeiten) in vollem Umfang leistungsfähig. Bestehende Fähigkeiten und erworbene Qualifizierungen verdienen daher aus unternehmerischer Sicht entsprechende Berücksichtigung.

Wichtig ist, dass man sich in diesem Zusammenhang als Arbeitgebende offen gegenüber möglichen Anpassungen zeigt. Es lohnt sich stets, kritisch zu reflektieren, wo es noch Handlungsbedarf oder Raum für Verbesserungen gibt. Eine solche Haltung wird übrigens von allen Mitarbeitenden geschätzt, nicht nur von jenen mit Behinderungen. 

 

  • Ein Portrait von Lena Öllinger. Sie hat kurzes rotes Haar und trägt ein blaues Hemd.

    Lena Öllinger: "Mein Grad der Behinderung von 100 sagt nichts über meine Leistungsfähigkeit im Beruf aus. Ich reise viel, halte Vorträge und berate Kund:innen – als Senior Consultant bei myAbility. Unterstützt werde ich dabei von persönlicher Assistenz und Gebärdensprachdolmetscher:innen."

 

3. Missverständnis: Menschen mit Schwerbehinderung anzustellen, ist zu teuer 

Tatsächlich ist es für Unternehmen teurer, wenn sie Menschen mit Schwerbehinderung nicht einstellen. Zwar müssen Menschen mit Behinderungen grundsätzlich nicht bevorzugt eingestellt werden, ein inklusives und innovatives Unternehmen sollte allerdings eine jeweils angemessene Quote im Blick haben (§ 154 SGB IX):

  • Betriebe < 20 Mitarbeitende: Pflicht zur Einstellung von Menschen mit Schwerbehinderung entfällt

  • Betriebe zw. 20–39 Mitarbeitenden: mindestens ein:e Angestellte:r mit Schwerbehinderung

  • Betriebe zw. 40–59 Mitarbeitenden: mindestens zwei Angestellte mit Schwerbehinderung

  • Betriebe > 60 Mitarbeitende: mindestens 5% Angestellte mit Schwerbehinderung

Unternehmen, die ihre gesetzlich vorgeschriebene Anzahl an Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderung nicht erfüllen, zahlen eine sogenannte Ausgleichsabgabe. Die Höhe dieser Abgabe hängt von der Anzahl der unbesetzten Pflichtarbeitsplätze ab. Ziel der Regelung ist nicht die Bestrafung von Arbeitgebenden, sondern das Schaffen von Anreizen, um aktiv zur Inklusion im Arbeitsleben beizutragen. 

 

4. Irrtum: Menschen mit Schwerbehinderung müssen ihre Arbeitgebenden über ihre Behinderung informieren

Der Arbeitgebende darf im Rahmen eines Bewerbungsgesprächs oder eines Anstellungsverhältnisses nicht nach einer Schwerbehinderung fragen. Tut er es trotzdem, ist das Gegenüber nicht dazu verpflichtet, eine Schwerbehinderung anzugeben. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass sie ihren Aufgaben uneingeschränkt nachkommen können. Nur wenn die Behinderung die Arbeitsausführung beeinflusst oder dadurch sogar eine Gefahr für andere Mitarbeitende entstehen könnte, besteht die Informationspflicht (§ 123 BGB). 

  • Bsp 1: Erika Mustermann leidet an Morbus Crohn, einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung. Da diese ihre Arbeit als Assistentin der Geschäftsführung allerdings nicht beeinträchtigt, muss sie im Bewerbungsverfahren keine Angaben zu ihrer Behinderung machen. Wird sie trotzdem danach gefragt, ist sie rechtlich sogar dazu berechtigt, die Frage nicht wahrheitsgemäß zu beantworten. 

  • Bsp. 2: Max Mustermann bewirbt sich als Tischler, leidet aber an einem Taubheitsgefühl in Armen und Händen. Dies erschwert ihm die Ausübung seines Handwerks ohne Hilfsmittel. Wird er daher im Bewerbungsverfahren gefragt, ob gesundheitliche Gründe seiner Tätigkeit im Weg stehen, muss er offen darüber sprechen. 

Die Offenlegung einer Behinderung ist sehr persönlich und braucht eine vertrauensvolle Atmosphäre. Arbeitgebende können viel dazu beitragen, dass sich Bewerbende ausreichend wohl fühlen, um offen über ihre Bedürfnisse zu sprechen. myAbility empfiehlt hier, folgende Frage an Bewerbende zu stellen: „Welche Rahmenbedingungen benötigen Sie, um gut arbeiten zu können?“ oder „Wie muss Ihr Arbeitsplatz ausgestattet sein, damit sie sich voll auf Ihre Aufgaben konzentrieren können?“ 

Tipp: Sie möchten wissen, wie ein barrierefreier Bewerbungsprozess gelingt – von der Stellenausschreibung bis zum Onboarding? In unseren myAbility-Recruiting Trainings erhalten Sie praxisnahe Impulse, wie Sie inklusive Prozesse gestalten und Talente mit Behinderungen gezielt und authentisch ansprechen können. 

 

5. Mythos: Menschen mit Schwerbehinderung müssen bei Bewerbungen bevorzugt eingestellt werden

Menschen mit Schwerbehinderung haben keinen automatischen Anspruch auf einen Job. Verantwortungsvolle Arbeitgebende sollten jedoch bei jeder Stellenbesetzung genau prüfen, ob sich eine Person mit Schwerbehinderung dafür eignet. Dies gilt insbesondere, wenn diese bei der Agentur für Arbeit gemeldet ist. Fachliche Qualifikation und Leistung hängen schließlich nicht von der Schwerbehinderung ab. 

Öffentliche Arbeitgebende hingegen sind von Gesetzes wegen sogar dazu verpflichtet, Bewerbende mit Behinderung zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Voraussetzung dafür ist die nötige Qualifikation der Bewerbenden für die jeweilige Stelle (§ 164 SGB IX und § 165 SGB IX). 

 

6. Irrtum: Das Team fühlt sich mit Kolleg:innen mit Schwerbehinderung unwohl oder überfordert 

Eine solche Annahme basiert häufig nur auf mangelnder Erfahrung im Umgang mit Kolleg:innen mit Behinderung. Eine offene Kommunikation und gezielte betriebliche Sensibilisierungsmaßnahmen können hierbei helfen, um mögliche Berührungsängste im Team abzubauen und ein produktives Miteinander zu fördern. 

Dass das solche Maßnahmen positive Auswirkungen haben, belegen Studien des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und von Aktion Mensch aus dem Jahr 2024: Menschen mit Behinderung fühlen sich in ihrem Arbeitsumfeld in der Regel nicht nur gut aufgehoben, sondern auch aktiv unterstützt. Dies deutet auf ein gesteigertes Engagement des gesamten Teams hin. Von einer solchen Atmosphäre profitiert am Ende wiederum das Unternehmen als Ganzes. Denn die vielfältige Zusammensetzung von inklusiven Teams führt mitunter zu bemerkenswerten Ergebnissen in Projekten. Menschen mit Behinderungen bringen oft einzigartige Perspektiven und Problemlösungskompetenzen mit, die die Teamdynamik bereichern und innovative Lösungen begünstigen.

 

7. Missverständnis: Menschen mit Schwerbehinderung dürfen keine Überstunden schieben

Es gibt keine pauschale Regel, die Überstunden grundsätzlich verbietet. Allerdings haben Menschen mit Schwerbehinderung das Recht, sich von sogenannter Mehrarbeit freistellen zu lassen. Das bedeutet: Sie dürfen Überstunden ablehnen, ohne Nachteile befürchten zu müssen (etwa bei der Bewertung ihrer Leistung oder hinsichtlich einer Beförderung). Als Mehrarbeit zählt dabei alles, was über die gesetzliche Regelarbeitszeit von acht Stunden pro Tag hinausgeht – unabhängig davon, ob der Arbeitsvertrag davon abweicht (§ 124 SGB IX und § 207 SGB IX).

Überstunden sind also möglich, aber kein Muss. Schutzrechte wie diese sorgen dafür, dass Menschen mit Schwerbehinderung selbstbestimmt und gesundheitsschonend arbeiten können, ohne sich ständig rechtfertigen zu müssen.

 

8. Irrtum: Menschen mit Schwerbehinderung haben uneingeschränkt Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung 

Richtig ist, dass viele Menschen mit Behinderungen gerne in Teilzeit arbeiten wollen oder können. Daher kann man sich als inklusives Unternehmen positionieren, indem man Stellen auch flexibel mit der Möglichkeit auf Teilzeit ausschreibt. Beschäftigte mit Schwerbehinderung haben ansonsten tatsächlich nur dann ein Recht auf Teilzeitarbeit, wenn ihre Behinderung eine kürzere Arbeitszeit aus gesundheitlichen Gründen notwendig macht. Als Nachweis kann ein ärztliches Attest dienen (§ 164 SGB IX). Es handelt sich hierbei also um eine individuelle Lösung und keine pauschale Regel

Unabhängig davon gilt für alle Arbeitnehmenden – ob mit oder ohne Behinderung – das Recht auf eine zeitlich beschränkte Verringerung der Arbeitszeit (sogenannte Brückenteilzeit). Voraussetzungen dafür sind, dass das Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate besteht und der Arbeitgebende mehr als 15 Mitarbeitende beschäftigt (ausgenommen Auszubildende). 

 

9. Mythos: Menschen mit Schwerbehinderung bekommen eine Woche mehr Urlaub

Tatsächlich haben Mitarbeitende mit Schwerbehinderung Anspruch auf zusätzlichen Urlaub, allerdings kommt es dabei auf das individuelle Arbeitsausmaß an. Die Anzahl der zusätzlichen Urlaubstage berechnet sich nach den wöchentlichen Arbeitstagen. Pro Arbeitstag in der Woche kommt ein zusätzlicher Urlaubstag dazu (§ 208 SGB IX). Das bedeutet konkret: 

  • Bei einer 1-Tages-Woche: 1 zusätzlicher Urlaubstag 

  • … 

  • Bei einer 5-Tage-Woche: 5 zusätzliche Urlaubstage 

Besteht die Schwerbehinderung oder das Arbeitsverhältnis nicht über ein volles Jahr, wird der Zusatzurlaub anteilig berechnet: Der Mitarbeitende erhält je ein Zwölftel pro vollem Monat. 

 

10. Missverständnis: Menschen mit Schwerbehinderung zu kündigen ist kompliziert bis unmöglich

Beschäftigte mit Schwerbehinderung haben nach Ablauf der Probezeit einen besonderen Kündigungsschutz, können aber trotzdem gekündigt werden. Bei diesem besonderen Kündigungsschutz handelt es sich nicht um einen ‚Freifahrtschein‘, sondern um eine wichtige Schutzmaßnahme. Menschen mit Schwerbehinderung sollen dadurch vor Benachteiligung geschützt werden und sich auf ihren Arbeitsplatz verlassen können. 

Beschließen Arbeitgebende, Mitarbeitende mit Schwerbehinderung zu kündigen, muss zunächst das Integrationsamt verständigt werden. Dieses entscheidet dann unter Berücksichtigung der Sachlage, ob eine Kündigung zulässig ist oder nicht. Ohne die Zustimmung des Integrationsamtes ist jede Kündigung (ordentlich oder außerordentlich) unwirksam (§ 168 SGB IX). 

 

Schluss

Schwerbehinderung im Job ist kein Hindernis. Sie ist vielmehr eine Chance für mehr Vielfalt, neue Perspektiven und nachhaltigen Unternehmenserfolg. Wer sich von alten Denkmustern und Irrtümern löst, entdeckt schnell: Inklusion bringt Bewegung in Teams und stärkt die Zusammenarbeit.

Bei Fragen oder Unsicherheiten empfiehlt sich jederzeit, den Austausch mit Expert:innen zu suchen. Wir von myAbility unterstützen Sie auf dem Weg zu echter Inklusion.

 

Hinweis

Warum myAbility das Wort “Schwerbehinderung“ selten nutzt

Schwerbehinderung ist ein rechtlicher Begriff aus Deutschland und ist daher ein wichtiges Wort im Zusammenhang der Inklusion z.B am deutschen Arbeitsmarkt. myAbility spricht aber meist von „Menschen mit Behinderungen“. Warum? Wir vertreten das soziale Modell von Behinderungen, das sagt, dass Menschen durch gesellschaftliche Barrieren behindert werden. Daher hängt die Ausprägung der Behinderung von den Rahmenbedingungen ab. Wir glauben, dass es keinen Unterschied machen sollte welcher Grad der Behinderung einem Menschen zugeschrieben wird. Inklusion heißt, dass wir volle Teilhabe für alle ermöglichen. Mehr zu inklusiver Sprache.

 

Weiterführende Quellen und Links

 

Quellen